Vorstoß in aufgeheizter Atmosphäre
Von Susann Witt-Stahl, HamburgAnlässlich des 76. Jahrestags der »Nakba« (Katastrophe) hat die Gruppe »Students for Palestine« einen Vorstoß auf den Campus der Universität Hamburg gewagt. Thematisch standen im Mittelpunkt einer Kundgebung am Mittwoch, an der sich etwa 200 ihrer Kommilitonen beteiligten, die Einbindung Hamburger Hochschulen in die Rüstungsforschung sowie die Welle von Polizeigewalt, Repression und Zensur gegen Studenten und Mitglieder des Lehrkörpers: »Wir studieren nicht, um Mordinstrumente für eure Kriege zu entwickeln!«, lautete die Botschaft einer Sprecherin von »Students for Palestine« an die Funktionseliten des deutschen Imperialismus.
Auf der Rednerliste fand sich auch eine Studentin aus Gaza, wo laut UN mindestens 5.479 Studenten, 261 Lehrer und 95 Professoren getötet und 60 Prozent der Bildungseinrichtungen zerstört worden sind (Stand: 18. April 2024). John Lütten, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent der Uni Hamburg, kritisierte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), die seit Wochen als lautstarke Unterstützerin der Netanjahu-Regierung gegen kritische Beschäftige der Hochschulen agitiert. »Wir brauchen Zivilklauseln und BAföG statt Bomben – und keine Bildungsministerinnen, die McCarthy-Stimmung verbreiten«, forderte er.
Die Kundgebung fand in aufgeheizter Atmosphäre statt: Gegen ein am Tag des Beginns der israelischen Offensive gegen Rafah errichtetes Mahnwachencamp der antiimperialistischen Gruppe »Thawra« und »Students for Palestine« hat sich eine breite Hetzfront aus Politik, Wissenschaft, Medien und Organisationen, die Lobbyarbeit für die israelische Regierung von Benjamin Netanyahu betreiben, formiert. »Ein Dialog mit Radikalen jeglicher Couleur bringt nichts«, meint Daniel Killy, Kampagnenjournalist und Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) in Hamburg. Killy trommelt für die unverzügliche Räumung des »Israel-Hass-Camps«, das sich in der Nachbarschaft des Uni-Campus befindet und noch bis Anfang Juni polizeilich genehmigt ist.
Als willkommener Anlass für die Forderung diente ein Vorfall, der sich am Abend des 8. Mai nach einer Ringvorlesung mit dem Titel »Judenfeindlichkeit, Antisemitismus, Antizionismus – aktuelle Formen antijüdischer Gewalt« ereignet hat: Ein heftiger Streit zwischen dem DIG-Vorstandsmitglied Elisabeth S. und einer Migrantin aus Somalia, die sich für das Palästina-Camp engagiert, eskalierte zu einer tätlichen Auseinandersetzung. Dabei erlitten beide Beteiligte Verletzungen – laut eigenen Angaben musste sich Elisabeth S. wegen einer Gehirnerschütterung medizinisch behandeln lassen.
Ohne dass der genaue Hergang und die Beweggründe bekannt waren, sprach der Präsident der Uni Hamburg, Hauke Heekeren, bereits am nächsten Tag von einer »antisemitischen Gewalttat«. Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Bündnis 90/Die Grünen) sekundierte mit entsprechenden Abscheubekundungen. Die »Täterin« stand bereits fest – eine »Muslimin aus Afrika«, wie der AfD-Bürgerschaftsfraktionschef Dirk Nockemann betonte. Der sogenannte Antisemitismusbeauftragte der Hansestadt, Stefan Hensel – der in der Vergangenheit immer wieder durch rassistische Entgleisungen aufgefallen ist –, wollte sofort eine Verbindung zu dem »beispiellosen Massaker vom 7. Oktober« erkannt haben.
Entsprechend ordnete die Springerpresse die palästinasolidarische Aktivistin, ohne für diese Behauptung Belege zu liefern, bei den »Sympathisanten der Terror-Organisation Hamas« ein. Dies sei »eine unsägliche und verantwortungslose Vorverurteilung par excellence«, sagte Adnan Aykaç, Anwalt der jungen Frau, gegenüber junge Welt. »Allem Anschein nach gilt der Grundsatz der Unschuldsvermutung bis zur rechtskräftigen Verurteilung nicht für Beschuldigte mit einer bestimmten religiösen und oder politischen Ausrichtung.«
In Anbetracht der permanenten Angriffe und Schmutzkampagnen zeigen sich »Students for Palestine« erleichtert, dass sie ihre Nakba-Kundgebung störungsfrei durchführen konnten. Ein »großer Erfolg« sei vor allem, dass sich viele Kommilitonen, die bisher nicht organisiert waren, trotz drohender Exmatrikulation und anderer Repressalien herausgetraut hätten, wie eine Sprecherin erklärte. »Wir sind jetzt mit der Solidaritätsbewegung an einem Punkt, wo man uns nicht mehr den Mund verbieten kann.«
In einer früheren Version des Beitrags wurde die Zahl der Getöteten im universitären Bildungsbereich mit einer falschen Jahresangabe versehen. Wir haben den Fehler korrigiert.
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